Valerie Blankenbyl | BKA Startstipendiatin 2018
Porträts

Valerie Blankenbyl | BKA Startstipendiatin 2018

Februar 2019

„Filme machen heißt, sich die Welt verständlich zu machen“

 

Start-Stipendiatin Valerie Blankenbyl ist weit gereist und gut vernetzt. Für ihre Ausbildung hat die 34-jährige Wienerin verschiedene Kreativschmieden in ganz Europa besucht, ihre ersten Dokumentarfilme hat sie in Brasilien, Russland und Indien gedreht. Nun ist sie mit Mann und Kind sesshaft geworden und arbeitet gleichzeitig an mehreren Filmprojekten. „Ein Idealzustand“, wie die Regisseurin meint.

Dabei war lange Zeit überhaupt keine Rede vom Filmemachen. „Werbung – das war meine ganze Welt“, erinnert sich Valerie an ihr Studium an der Universität für angewandte Kunst, in der Klasse für Grafik und Werbung, „und dort ging es vor allem um Konzeptarbeit. Jedes Mal, wenn ich eine Werbekampagne gestaltet habe, habe ich aber auch einen Film dazu gedreht. Einen Animationsfilm, einen Werbefilm, Stop-Motion … selbst, wenn es um eine Printkampagne gegangen ist. Meinen Professor hat das überhaupt nicht interessiert. Also habe ich ein Auslandssemester in Australien gemacht, um dort nur Filmfächer zu besuchen. Und da wusste ich dann: Das ist es, was ich machen möchte.“

Valeries erster Langfilm in Allein-Regie, Ma Na Sapna – A Mother’s Dream (CH 2013, 86 min.), beim Max Ophüls Preis 2014, v.l.n.r.: Produzent Dario Schoch, Tonfrau Manaledi La Roche, Kamerafrau Gabriela Betschart, Editorin Natascha Cartolaro, Regisseurin Valerie Blankenbyl, Festivalmoderator Piet Fuchs.

Valerie ist zielstrebig und – im positiven Sinn des Wortes – ehrgeizig. Das Grafikdesign-Studium abzubrechen, kam für sie nicht infrage. „Ich wusste, wenn ich aufhöre, habe ich das Gefühl, etwas unfertig zurückzulassen. Und das mag ich nicht. Ich mache Dinge gerne fertig. Also habe ich so schnell wie möglich abgeschlossen und noch während der letzten Semester an einem Wettbewerb teilgenommen, dessen erster Preis es war, an die ‚Fabrica’ in Italien eingeladen zu werden. Und den Wettbewerb habe ich gewonnen.“

Kreativschmiede Benetton

Die „Fabrica“, im venezianischen Treviso gelegen, ist die Kreativschmiede des Modelabels Benetton, gegründet 1994 von Firmenbesitzer Luciano Benetton und dem Fotografen Oliviero Toscani, der seit Jahrzehnten für die berühmt-berüchtigten Werbekampagnen von Benetton verantwortlich ist. Der Campus der Fabrica ist eine modernisierte Villa aus dem 17. Jahrhundert, angeboten werden dort Workshops und Vorträge aus den Bereichen Fotografie, Film, Design, Musik und Journalismus. Jedes Jahr werden junge Künstlerinnen und Künstler unter 25 Jahren eingeladen, um dort gemeinsam zu leben, sich auszutauschen und kreativ zu sein. Valerie Blankenbyl, geborene Gudenus, hat schlussendlich zweieinhalb Jahre an der Fabrica verbracht. Und auch ihren Mann Lawrence Blankenbyl dort kennengelernt, einen Regisseur aus Neuseeland.

„Meine Zeit in der Fabrica war einfach großartig“, schwärmt Valerie noch heute, „man lebt mit rund 30 jungen Leuten aus der ganzen Welt zusammen, jeder macht sein eigenes Projekt und erhält dafür Unterstützung. Manchmal hat sogar Benetton seine Projekte reingebracht und man konnte mitarbeiten. Man wurde dort unglaublich schnell unglaublich gut vernetzt. Für mich ist daraus eine weltweite Familie entstanden. Wenn ich heute irgendwo auf der Welt hinfahre, frage ich immer ‚Ist jemand von der Fabrica da?’ und irgendwer ist immer in der Nähe.

I AM JESUS

Im Rahmen der Fabrica Art Residency hat Valerie ihre erste Co-Regie bei einem Langdokumentarfilm gemacht: „Ich habe zufällig eine ältere Doku von Werner Herzog gesehen – Glocken aus der Tiefe. Glaube und Aberglaube in Rußland (DE/US 1993) – und in dem Film behauptet jemand, Jesus zu sein. Er nannte sich Vissarion, sah aus wie eine junge Renaissance-Figur, und ist von Dorf zu Dorf gegangen, um Menschen zu heilen. Ich fand es beeindruckend, dass die Leute diesem Mann offensichtlich geglaubt haben. Und habe dann meiner Wohnungskollegin Heloisa Sartorato davon erzählt. Aber sie hat nur gemeint: ‚Jaja, in Brasilien haben wir auch einen Jesus.’ Und so haben wir beide angefangen zu recherchieren und schließlich gemeinsam die Doku I AM JESUS (IT 2010, 75 min.) gemacht.“

Still aus I AM JESUS: Vissarion segnet Brot.

Trailer zu I AM JESUS:

I AM JESUS trifft Menschen, die überzeugt davon sind, der zurückgekehrte Sohn Gottes zu sein, und begleitet sie und ihre Anhänger durch den Alltag im 21. Jahrhundert. Durch seine beobachtende Gegenüberstellung der unterschiedlichen Jesus-Figuren verweist der Film auf ein Paradoxon: Denn selbst wenn Jesus zurückgekehrt wäre, könnte es ihn nur einmal geben. Wen also hält man – als Zuschauer/in –  für den „echteren“, den „besseren“ Jesus?

Vissarion, mittlerweile in die Jahre gekommen, hat bis dato über 4000 AnhängerInnen um sich versammelt, die in der sibirischen Taiga unter einfachen Bedingungen für ihre „Kirche des Letzten Testaments“ leben. In Brasilien tritt Inri Cristo, ein 70-jähriger ehemaliger Pädagoge, immer wieder im Fernsehen auf und führt sonst ein recht zurückgezogenes Leben an der Seite einiger junger Anhängerinnen. Der Brite David Shayler wiederum war früher MI5-Agent und ist nun Hausbesetzer im Süden von London.

Respekt und Neugierde

Valerie war sich bewusst, dass ihre eigene Haltung beim Dreh eine wichtige Rolle spielen würde: „Ich selbst bin Atheistin, aber in meiner Familie gibt es durchaus Menschen, die sehr gläubig sind und die sehr viel Kraft aus ihrer – in diesem Fall römisch-katholischen – Religion ziehen. Vor denen habe ich ja auch Respekt – obwohl ich sie nicht verstehen kann. Trotzdem kann ich ihnen zuhören und mich für ihre Weltsicht interessieren. Ich glaube, so wähle ich überhaupt meine Filmthemen aus: wenn ich auf eine Sache stoße, die ich nicht verstehe, aber verstehen möchte. Das Filmemachen ist für mich der Prozess des Verständlichmachens.“

Valerie beim Dreh mit Inri Cristo in Brasilien.

I AM JESUS musste ohne offizielle Fördergelder auskommen und war deshalb mehr No- als Low-Budget. Blankenbyl und Co-Regisseurin Sartorato mussten beim Dreh alles selbst machen: Regie, Kamera, Ton. „Wir hatten gerade mal genug Geld für unsere zwei Flugtickets und das billigste Zimmer in einem Hostel. Wir hatten auch nicht die Mittel zu recherchieren, also Vorgespräche zu führen oder Ähnliches. Der Dreh war somit die Recherche. Da mussten wir dann auch erfinderisch sein, denn bei Inri Cristo in Brasilien zum Beispiel hatten wir genau einen Termin. Aber gebucht hatten wir für drei Wochen. Wir mussten also immer wieder einen neuen Grund finden, ihn nochmals zu treffen. Wir haben dann sogar Musikvideos für ihn gedreht …“

Still aus I AM JESUS: David Shayler mit Freunden beim Meditieren.

Nach dem Erfolg von I AM JESUS (der Film wurde auf zahlreiche Festivals geladen, darunter Zagreb, Sao Paolo, Rotterdam und Warschau), wollte Valerie ihr fehlendes Filmwissen nachholen, aber ohne ein Studium von vorne beginnen zu müssen. Auch hatte sie bereits neue Ideen für den nächsten Dokumentarfilm – das Einzige, was ihr fehlte, waren die finanziellen Mittel und ein professionelles Ausbildungs-Setting: „Ich wollte mein erstes eigenes Langfilmprojekt starten und habe Programme gesucht, die das unterstützen. Was gar nicht so einfach ist, weil viele Programme sehr theorielastig sind. Ich wollte aber einfach nur den nächsten Film drehen.“

Fündig wurde Valerie beim zweijährigen Masterprogramm der Zürcher Hochschule der Künste (ZhdK): „Dort bewirbt man sich mit genau dem Projekt, das man machen möchte. Und stellt dann aus den Klassen für Produktion, Kamera, Schnitt sein Team zusammen. Mit – auch finanzieller – Unterstützung der Uni arbeitet man dann am Projekt, bis es fertig ist. Alles in allem ist das ein sehr produktiver Ansatz.“

Kulturschock Indien

Entstanden ist Ma Na Sapna – A Mother’s Dream (CH 2013, 86 min.). Der Film begleitet sechs Frauen im Nordwesten Indiens durch die verschiedenen Stadien ihrer Leihmutterschaft. Er zeigt die Freuden und Konflikte, die im temporären Zusammenleben der Frauen in einer auf Leihmutterschaft spezialisierten Klinik entstehen und steuert dabei unaufhaltsam auf jenen Moment zu, in dem die sechs Mütter ihre Neugeborenen aufgeben müssen.

Teaser zu Ma Na Sapna – A Mother’s Dream:

Den kompletten Film gibt’s auf Video on Demand:

Einen Monat lang konnte Valerie auf Recherchereise nach Indien fahren: „Ich habe dann beschlossen, in der größten Leihmutter-Klinik des Landes zu drehen, dort, wo auch schon viele Fernsehdokus zu dem Thema entstanden sind. Ich war also auf der Suche nach dem Element, das noch nicht erzählt worden ist. Und das war interessanterweise die Perspektive der Frauen dort. In den Fernsehdokus ist es immer um das westliche Paar gegangen, das keine Kinder kriegen kann, dann reisen sie nach Indien und alles wird gut. Aber wie stellt sich dieselbe Situation für die indischen Frauen dar? Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie die Kinder so leicht aufgeben, wie das immer behauptet wird. Und das war dann auch nicht so. Diese Erfahrung wurde dann zu meinem Auftrag: zu erzählen, dass die Mutter-Kind-Bindung universell ist und deshalb nicht so einfach zu trennen.“

Kamerafrau Gabriela Betschart und Regisseurin Valerie Blankenbyl bereiten sich auf den Dreh einer Geburt vor.

Gedreht hat Valerie schließlich drei Monate lang mit einem kleinen Team, bestehend aus Kamerafrau, Tonfrau und Übersetzerin. Jeden Tag haben sie mit den schwangeren Frauen verbracht. Sie haben gemeinsam gegessen, Zeit totgeschlagen, sind mit ihnen zu Untersuchungen gegangen und waren schließlich bei der Geburt dabei. Dreh- und Angelpunkt für dieses Nahverhältnis war die Übersetzerin, erklärt Valerie: „Am Anfang habe ich mit allen 70 Frauen in der Klinik Kurzinterviews geführt. Es war wie ein Casting-Prozess, um herauszufinden, mit welchen Frauen ich drehen möchte. Meine Fragen waren: ‚In welchem Monat bist du? Wieviel eigene Kinder hast du? Hast du einen Mann? Wie ist deine Lebenssituation?’ Als Antwort haben die Frauen aber immer nur von ihren Kindern erzählt, wie sie heißen, wie alt sie sind, wie es ihnen geht … Da hatte ich zuerst die Übersetzerin in Verdacht, dass sie nicht genau übersetzt, und habe sie zur Rede gestellt. Sie hat mir dann aber erklärt, dass es sehr unhöflich ist, gleich nach dem Mann und der Lebenssituation zu fragen und dass man am Anfang besser ein bisschen smalltalkt. Und wie man bei uns übers Wetter redet, redet man in Indien über die Kinder. Weil Kinder immer ein erfreuliches Thema sind. Im Gegensatz zu Männern. Und so habe ich gelernt, mich vom Smalltalk langsam vorzutasten zu den heikleren Fragen.“

Fragen stellen – das ist in mehrerlei Hinsicht die Basis von Valeries filmischer Welterkundung. Mit ihren Fragen sucht sie nicht nur bei den Protagonist/innen, sondern auch bei sich selbst nach Antworten. Valeries Dokumentarfilme gründen daher weniger auf Interviews als auf Gesprächen. Auf Gesprächen zwischen zwei Menschen – einer vor der Kamera und einer dahinter –, die ein aufmerksames Zuhören wie auch ein interessiertes Nachfragen erfordern. Leiten lässt sich die Regisseurin dabei von ihrer Intuition: „Ich entscheide mich bei jedem Projekt neu, wie ich an das Thema herangehe. Bei meinem aktuellen Projekt, das ich in Florida drehe, geht es mir dezidiert um den Dialog – zwischen mir als junger Filmemacherin und den doch viel älteren Protagonist/innen.“

Disneyland für Senioren

Das Florida-Projekt ist ein Dokumentarfilm über die größte Rentnerstadt der Welt, in der 160.000 Menschen über 55 Jahren leben. Im Frühjahr 2019 ist für Valerie Drehbeginn: „Die sogenannten Babyboomer, die jetzt in Pension gehen – das ist ein riesiger Markt von Leuten, die noch fit sind, aber abgeschlossen haben mit einer Welt, die die Jugend feiert. Dafür haben diese ‚Alten’ keine Lust mehr, Steuern für Spielplätze oder für Schulen zu zahlen, und wollen sich nur noch auf sich selbst konzentrieren. Für mich ist der Film eine Beschäftigung mit der eigenen Zukunft: Ich werde die älteren Frauen und Männer bei ihren täglichen Aktivitäten in diesem ‚Disneyland für Senioren’ begleiten und mit ihnen über ihre Sichtweise der Dinge sprechen. Und dabei ist es ganz wichtig, transparent zu machen, dass die Person, die den Film dreht, eben zur jungen Generation gehört. Schon beim Recherche-Dreh haben sich die Leute mir gegenüber fast rechtfertigend verhalten, weil sie immer damit rechneten, negative Reaktionen oder Kritik von Seiten der Jungen zu bekommen.“

Valerie beim Arbeiten im Gemeinschaftsstudio Reflektor im fünften Bezirk in Wien.

Noch in Entwicklung befindet sich jenes Dokumentarfilm-Projekt, für das Valerie das Startstipendium bekommen hat. Arbeitstitel: Der Troll – ein Film über das aktuelle Thema des trollings im Internet. „Hass im Netz ist deswegen möglich, weil das Internet eine rein künstliche Welt ist und damit eine unpersönliche, die erlaubt, dass man Mitmenschen unmenschlich sieht und auch behandelt. Was mich für den Film interessiert, ist die Mitte, der Punkt, an dem unsere reale Welt mit der digitalen verschwimmt. Dafür eine filmische Entsprechung zu finden, daran arbeite ich gerade“, erklärt Valerie und stellt sich gleich selbst die nächste Frage: „Die digitale Welt ist so präsent in unserem Alltag, aber in Filmen ist sie noch nicht so richtig angekommen. Wie zeigt man, dass wir im Kaffeehaus sitzen und plaudern und gleichzeitig SMS verschicken, Fotos ansehen und in den sozialen Netzwerken surfen? Wie lässt sich das visuell übersetzen, was da in unseren Köpfen vorgeht? Wie zeige ich, dass wir an einem Ort sitzen und gleichzeitig durchs World Wide Web reisen?” Man darf gespannt sein, welche Antworten Valerie Blankenbyl in ihrem Film auf diese Fragen geben wird.

von Dominique Gromes, im November 2018
Porträtfoto © Elodie Grethen
alle weiteren Fotos zur Verfügung gestellt von Valerie Blankenbyl