Mein Kino von morgen: die entgrenzte Leinwand
Sichtweisen

Mein Kino von morgen: die entgrenzte Leinwand

Gregor Schmidinger, März 2016

Gregor Schmidingers Kurzfilme wurden bisher rund 15 Millionen Mal online angesehen. Derzeit arbeitet er an seinem über Crowdfunding-mitfinanziertem Spielfilmdebüt Nevrland.

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Wo sehe ich persönlich die Zukunft des Kinos? Reagierend auf die neue digitale Ökonomie, in der wir bereits leben. Dabei sind es vor allem zwei Aspekte, auf die ich in meiner Sichtweise eingehen möchte: der Einfluss von Social Media und die Transmedialität.

Der Dialog mit dem Publikum: nicht erst im Kino

Während meines Studiums an der FH Salzburg, an der ich Digitales Fernsehen studierte, absolvierte ich ein Austauschjahr an der Bowling Green State University in den USA. In diesem Rahmen schrieb und inszenierte ich meinen Kurzfilm The Boy Next Door (2008). Was damals lediglich als Semesterprojekt begonnen hat, sollte in den darauffolgenden Jahren zu meinem bisher erfolgreichsten Kurzfilm werden. Es war die Zeit, als YouTube gerade begonnen hat, seine Vormachtstellung als soziales Netzwerk und Suchmaschine für Videos einzunehmen.

Als ich damals The Boy Next Door auf YouTube hochgeladen habe, dachte ich, dass er vermutlich ein paar hundert oder vielleicht tausend Mal aufgerufen werden würde. Mein insgeheimer Wunsch war vielleicht: 100.000 Aufrufe. Es kam erfreulich anders: Der Film wurde bis heute mehr als 10 Millionen Mal aufgerufen und damit zu einem der erfolgreichsten (LGBT-)Kurzfilme auf YouTube überhaupt!

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Still aus The Boy Next Door
homophobia
Still aus Homophobia

Neben neuen Marketingkanälen und Panik in den Medienbranchen brachte Social Media die größte Revolution seit dem Buchdruck: Das erste Mal in der Geschichte der Massenmedien war ein direkter Dialog zwischen Contentproduzent und User technisch möglich. Was bereits in einer stark geografisch und zeitlich eingeschränkten Form auf Filmfestivals möglich war – der Dialog zwischen Filmemacher und Zuseher – wurde nun von Raum und Zeit losgelöst. Ich finde es immer wieder spannend zu lesen, was Menschen auf verschiedensten Kulturkreisen mit unterschiedlichsten Lebensrealitäten in meinen Kurzfilmen sehen und für sich mitnehmen. Vom Ausdruck dieser Sichtweisen und Gedanken profitiere ich als Künstler und Mensch enorm, da dies natürlich meine zukünftige Arbeit beeinflusst.

Dabei muss sich der Dialog aber nicht rein auf ein schon fertiges Werk beschränken. Dieser Dialog kann bereits während der Entstehung beginnen und so das Werk mit beeinflussen. Diese Form des Dialoges mit dem zukünftigen Publikum habe ich bereits bei meinem letzten Kurzfilm Homophobia (2012), der abermals bereits mehr als 3,5 Millionen Aufrufe auf YouTube verzeichnet, getestet. Da meine Erfahrungen, mit dieser speziellen Art zu arbeiten, überwiegend positiv waren, habe ich mich dazu entschlossen, dies bei meinem Debütspielfilmprojekt Nevrland zu wiederholen.

Für Nevrland habe ich damit gleich am ersten Tag des Drehbuchschreibens begonnen. Dafür legte ich eine eigene Facebookseite an auf der ich in den letzten zwei Jahren die Entstehung des Drehbuches dokumentierte. Waren es am Anfang nur Freunde und Interessierte aus dem näheren Umfeld, so ist die Community rund um Nevrland heute knapp 35.000 Fans stark und das obwohl es bisher eben nur ein Drehbuch gibt.

Dass dies nicht nur leere Likes sind, hat die erste Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter bewiesen, in dessen Rahmen wir Anfang des Jahres innerhalb von drei Wochen 18.000 Euro für die Konzeption und Umsetzung erster transmedialer Teilprojekte gesammelt haben.

Die entgrenzte Leinwand: transmediales Geschichtenerzählen

Transmediales Geschichtenerzählen beschreibt das Erzählen einer Geschichte oder das Erleben einer Geschichtswelt durch verschiedene Medienkanäle. Es geht dabei nicht um eine Adaption eines Mediums in ein anderes (z.B. eines Comics in einen Spielfilm), sondern viel mehr um die Öffnung und Erweiterung eines narrativen Raumes in verschiedene Kanäle.

Wie kann man sich das nun vorstellen? Ich möchte diese kurz anhand eines potentiellen transmedialen Teilprojektes für mein Spielfilmprojekt Nevrland erläutern. Nevrland ist in erster Linie ein klassischer Spielfilm. Es gibt einen Protagonisten, dieser hat ein Ziel und am Weg dahin gibt es Widerstände, die es ihm schwer machen. Es gibt einen klaren Anfang und ein klares Ende. Der Spielfilm kann also für sich alleine stehen.

Ich habe Nevrland so geschrieben, dass wir den kompletten Film über sehr nahe am Protagonisten Jakob dran sind. Wir erleben die Geschichte mehr oder weniger auf gleicher Augenhöhe mit ihm. Das bedeutet aber auch, dass es andere Charaktere gibt, von deren Leben wir immer nur fragmentarisch etwas mitbekommen, eben wenn Jakob mit ihnen zu tun hat.

Einer und vermutlich der wichtigste Charakter heißt Christian. Die beiden begegnen sich eines Nachts zufällig in einem Sex-Cam-Chat und freunden sich an. Im virtuellen Raum entwickeln sie eine Beziehung zueinander. In der ersten Hälfte des Films begegnen sie sich lediglich online. Christian ist für uns daher immer nur fragmentarisch wahrnehmbar. Der Charakter hat jedoch ein eigenes Leben und eine eigene Geschichte, die wir im Spielfilm nicht komplett zu sehen bekommen.

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Crowdfunding-Kampagne zu Nevrland

Eine Idee eines transmedialen Teilprojektes ist es nun, parallel zum Spielfilm einen Kurzfilm zu produzieren, der die erste Hälfte der Geschichte von der Perspektive von Christian erzählt. Dieser Kurzfilm könnte z.B. ähnlich wie The Boy Next Door und Homophobia auf YouTube hochgeladen werden. Dabei könnten alle, die den Spielfilm bereits kennen, ein erweitertes Verständnis für Christian bekommen und eine zusätzliche Perspektive auf die Themen, die in Nevrland verhandelt werden. Und für alle jene, die zuerst den Kurzfilm sehen, könnte der Kurzfilm als Eintrittsportal in die Welt von Nevrland dienen.

Dass hier natürlich auch ein gewisser Marketingeffekt entsteht, will ich gar nicht leugnen. Transmedialität aber als reine Marketingmaßnahme zu bezeichnen, ist für mich zu kurz gedacht. Jedes transmediale Teilprojekt, ob dies nun ein Kurzfilm, eine Ausstellung, ein Blog, ein Spiel oder was auch immer sein mag, kann für sich stehen und soll einen intrinsischen künstlerischen Wert generieren. Am Ende entsteht etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile, denn jedes dieser Teile nutzt die Stärken der einzelnen Medien für die Geschichte und ihre Themen auf bestmögliche Weise.

Und das Kino? Es bleibt Erlebnisraum

Wo findet nun das Kino als Kunstform und als Ort zwischen den Online-Communities im sozialen Netz und den transmedialen Projekten seinen Platz? Man kann doch Filme, ob jetzt für sich alleine stehend oder als Teil einer transmedialen Erfahrung, doch auch zuhause im Home Cinema oder am Laptop schauen?

Im Rahmen des Crowdfunding-Kick-Off-Events für Nevrland zeigten wir unter anderem noch einmal Homophobia auf der großen Leinwand. Nach der Vorführung kam eine Freundin, die den Film davor nur auf YouTube gesehen hatte, auf mich zu und meinte, dass sie sehr über die Wirkung des Filmes auf der Leinwand überrascht war. Es sei ein ganz anderes Erlebnis gewesen.

 gartenbaupremiere
Premiere von Homophobia im Gartenbaukino Wien

„Erlebnis“ ist hier auch schon die keineswegs überraschende Antwort für die Frage. Es gibt Filme, bei denen scheint es keinen großen Unterschied zu machen, ob man diese im Kino oder am Laptop schaut. Bei diesen Filmen geht es in erster Linie um das Was und nicht so sehr um das Wie. Die Funktion, in den meisten Fällen die (emotionale) Geschichte, ist wichtiger als ihre Inszenierung. Dafür gibt es auch im österreichischen Kino einige Beispiele an Produktionen, die zwar für eine breite Masse und mit relativ viel Marketingbudget in die österreichischen Kinos gebracht wurden, bei denen der Erfolg jedoch ausblieb. Die Überlegung des Zusehers scheint genau so simpel wie nachvollziehbar: Warum ins Kino gehen, wenn ich das gleiche Erlebnis bequemer und günstiger über Flimmit streamen oder in ein paar Wochen im ORF sehen und ich mir anstatt dessen im Kino The Revenant anschauen kann?

Homophobia ist ein sehr langsamer, ruhiger und effektloser Film, dennoch scheint es gelungen zu sein, im Kino eine fundamental andere Erfahrungsqualität zu erzeugen als zuhause am Bildschirm. Dies ist meiner Meinung nach auch zukünftig der USP des Kinos: ein sozialer Erlebnisraum, vielleicht die postmoderne schamanische Höhle, die in ihrer Erfahrungsqualität nicht digital kopiert oder zuhause imitiert werden kann. Es ist immer gut, wenn Filmemacher nicht nur an ihre Geschichten, sondern auch diesen Erlebnisraum mit denken, wenn sie mit ihrem Film „ins Kino“ wollen (und das hat nichts mit der Anzahl an Effekten oder dem lauten Sounddesign zu tun).

Daher steht für mich am Ende eine Vision eines „Kinos von morgen“, welches sich durch einen entgrenzten sozialen Erlebnisraumes definiert, in dem ein Dialog zwischen dem Filmemacher und dem Zuseher über Raum und Zeit stattfinden kann.

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Veröffentlicht am 20. März 2016
Fotos zur Verfügung gestellt von Gregor Schmidinger