Kristína Leidenfrostová| BMKÖS Startstipendiatin 2022
Porträts

Kristína Leidenfrostová| BMKÖS Startstipendiatin 2022

Januar 2023

„Ein Chaos, aus dem ich immer etwas zaubern kann“

 

Kristína Leidenfrostová, 1991 in Bratislava (Slowakei) geboren, studierte Dokumentarfilmregie an der Filmhochschule in Bratislava (VŠMU) in der Meisterklasse von Peter Kerekes. Danach arbeitete sie als Drehbuchautorin und Regisseurin an Dokumentarfilmreihen, die vom öffentlich-rechtlichen Slowakischen Fernsehen (RTVS) ausgestrahlt wurden. Kristína lebt seit 2018 im Burgenland und hat sich für das Startstipendium 2022 mit dem Projekt 600 Razzien beworben, einem Dokumentar-Essay über die Albträume slowakischer Roma und Romnja, in denen erlebte Polizeibrutalität wieder zum Leben erwacht.

 

Was hat sich von Bratislava nach Österreich verschlagen?

Kristína Leidenfrostová: Liebe.

Du hast schon für das Slowakische Fernsehen Filme herstellen können, was in Österreich nicht so einfach möglich ist. Wie ist die Arbeitsrealität für eine junge Absolventin einer Filmuniversität in der Slowakei? Und kannst du schon sagen, welche Unterschiede du empfindest zwischen der slowakischen und österreichischen Filmkultur?

Im Fernsehen haben wir sehr schöne Formate für Dokumentarfilmserien, nämlich 26 oder 13 Minuten, was jungen Filmemacher*innen gerade genug Platz bietet, um Erfahrungen zu sammeln und dabei auch immer noch scheitern zu dürfen. Gleichzeitig gibt es Produzent*innen, die auf junge Autoren*innen zugehen, originelle Zugänge zu den jeweiligen Themen zu schätzen wissen und ihnen so viel Freiheit lassen, dass innerhalb einer Dokumentarserie oft formal völlig unterschiedliche Werke entstehen. Jedes dieser Projekte wird von einer*einem erfahrenen Dramaturg*in betreut.

Ich muss zugeben, dass ich anfangs bezweifelt habe, dass meine Erfahrungen in Österreich relevant sein würden. Ich habe von dem Stipendium übrigens durch eine bezahlte Werbung auf Facebook erfahren. Ich denke, es lag auch daran, wie die Arbeit von Drehbuchautoren*innen und Regisseur*innen in diesen Ländern wahrgenommen wird. In der Slowakei habe ich das Filmemachen selbst als Hobby wahrgenommen und war geradezu schockiert, als ich sah, dass der Beruf hier respektiert wird. Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen.

Du hast dich in deinen früheren dokumentarischen Arbeiten mit der Slowakei beschäftigt, bspw. mit Expremiéri (2016, 26 min), dem Porträt eines ehemaligen Premierminister, oder IKONY, einer Dokumentarserie über die älteste noch lebende Architekten-Generation. Was interessiert dich an den Chroniken, Persönlichkeiten, Ereignissen deines Geburtslandes?

Ich sage lieber, was mich interessiert und was mich nervt, denn es ist schwer, beides voneinander zu trennen. So haben wir zum einen lange Zeit in einem unfreien Regime gelebt und wundern uns zum anderen, woher die Gleichgültigkeit anderen gegenüber, die Gleichgültigkeit gegenüber der Freiheit kommt.

Nur in einem solchen Land werden einzigartige architektonische Bauten dem Verfall überlassen, und der ehemalige Premierminister, der seine gesamte politische Karriere dem Kampf gegen Kommunismus und später gegen Populismus gewidmet hat, verteidigt jetzt Putin und seinen Krieg in der Ukraine.

Es tut mir aber gut, zwischen den beiden Ländern pendeln zu können.

In deinen Arbeiten verbindest du Geschichte, Politik, Reflexion und Kritik. Wie verwendest du das Medium Film für das, was dir wichtig ist, erzählt/gezeigt zu werden?

Es ist spannend, die eigenen Beobachtungen und Gefühle damit zu konfrontieren, wie andere die Welt und sich selbst sehen. Und es gefilmt zu haben. Außerdem bin ich ein sehr chaotischer Mensch, und wenn ich mit so vielen audiovisuellen Bedeutungs- und Ausdrucksebenen auf einmal arbeite, ist das ein Chaos, in dem ich mich sehr wohl fühle und aus dem ich immer etwas zaubern kann.


Recherchefoto zum neuen Projekt 600 Razzien.

Worum geht es in deinem dokumentarischen Essay-Projekt 600 Razzien, mit dem du dich für das Startstipendium beworben hast?

600 Razzien wird eine intime filmische Reflexion, die uns daran erinnern soll, wie zerbrechlich die Menschenwürde ist und wie leicht sie verloren gehen kann. Aus den Fragmenten der wiederkehrenden Träume und der perspektivlosen Lebensrealität entsteht ein Bild der Polizeibrutalität und des alltäglichen Rassismus, den slowakische Roma und Romnja erleben. Niemand kann ihnen versprechen, dass diese Razzien sich nicht wiederholen werden. Wir sprechen von einer Lebensrealität, die sich oft in völlig segregierten Gemeinschaften abspielt, in denen es weder die Möglichkeit zur Flucht vor der Polizei noch zur Rückkehr in die Gesellschaft gibt.

Die seit Jahrzehnten ausgeübte und gesellschaftlich akzeptierte (Polizei-)Gewalt an deinen Protagonist*innen und ihr kollektives Trauma erzählst du über deren (Alb-)Träume. Warum? Und wie möchtest du das als Film gestalten?

Ich habe mich entschieden, die Polizeiakten, die zeitliche Kontinuität und die Fakten der Polizeirazzien ein Stück weit hinter mir zu lassen. Stattdessen habe ich mich gefragt, welche Bilder von Gewalt in uns bleiben, wie sie mit uns leben und wie wir mit ihnen leben, und lasse die Grenzen zwischen Albträumen und Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Gleichzeitig möchte ich, dass wir die Roma und Romnja als Menschen kennenlernen, die auch Zukunftsträume haben. Aber die Tatsache, dass wir sie immer noch ausgrenzen und ihnen systematisch Angst einjagen, bedeutet, dass sie keine Chance kriegen, diese Träume zu verwirklichen.


Recherchefoto zu 600 Razzien.

In welchem Stadium befindet sich 600 Razzien derzeit und was wird in den nächsten Schritten die größte Herausforderung?

Ich recherchiere weiter und versuche, mit der Tatsache klarzukommen, dass diese Geschichten wahrscheinlich kein Happy End haben werden. Es ist mir wichtig, dass die Protagonist*innen das auch verstehen. Trotzdem kann ich sehen, dass es ihnen etwas bedeutet, und darin sehe ich meine größte Verantwortung.

Und natürlich brauche ich eine*n Produzent*in!

Instagram Kristína Leidenfrostová
Porträtfoto © Cinema Next / Igor Ripak