Geschichten, die im Kino fehlen
Sichtweisen

Geschichten, die im Kino fehlen

Senad Halilbasic, März 2016

Senad Halilbasic ist als Dramaturg, Drehbuchautor und Kulturwissenschafter tätig. Er ist einer der ProjektleiterInnen des Stoffentwicklungsprogramms Diverse Geschichten. Dieser Text wurde als Intervention beim Cinema Next Breakfast Club (Breakfast #3: Grenzüberschreitungen) auf der Diagonale 2016 vorgetragen.

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Roland Teichmann sprach am ersten Tag dieses wunderbaren Cinema Next Formats von seinem „Kino von morgen“. Seine Ansichten zum Kino von morgen waren eine Betrachtung des Ist-Zustands. Seine Gedanken wurden begleitet von 15 Portraits von Filmschaffenden, die bis auf wenige Ausnahmen, eigentlich ein Kino von gestern repräsentieren. Angeregt von dieser Eröffnungs-Intervention und des heutigen Themas der „Grenzüberschreitungen“ biete ich hier einen Gegenvorschlag an, das Kino von morgen – das next cinema – zu begreifen: Als einen Ort der Inklusion auf produktioneller wie auch rezeptioneller Ebene, sei es in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit oder sozioökonomische Schichten. Das bedeutet, es müssen Strukturen geschaffen werden, in der sich alle einbringen können. Das Recht auf Partizipation ist hier wesentlich.

2009 riefen Robert Buchschwenter und Ursula Wolschlager das interkulturelle Stoffentwicklungsprogramm Diverse Geschichten, das sich der dramaturgischen Entwicklung von Drehbüchern postmigrantischer FilmautorInnen widmet, ins Leben. Zu dieser Zeit noch als Nischen-Programm belächelt, erwies es sich rasch als dringend notwendige Bereicherung in der österreichischen Drehbuchkultur. Angesichts des heutigen Themas des Breakfast Clubs möchte ich hier einen Blick auf den status quo des postmigrantischen Kinos werfen. Meine Worte werden währenddessen von den Portraits von AutorInnen begleitet, die vielleicht viele von euch nicht kennen, die aber im Kino von morgen nicht wegzudenken sein werden. Man kann dies als eine in meinen Augen notwendige, auf Diversität bestehende Ergänzung zu Herrn Teichmanns Intervention verstehen.

Österreich ist ein Migrationsland. Ein Land, das vor nicht allzu langer Zeit innerhalb einer Tötungsmaschinerie Menschen zur Migration zwang. Ein Land, dessen Geschichte nicht jenseits der Migrationsprozesse zu denken ist. Zugleich ein Land, dessen gegenwärtige Politik einen höchst bedenklichen, ja sogar pathologisch-schizophrenen Migrationsdiskurs pflegt: von „Refugees welcome“ hin zu einer „Festung Europa“. Grenzen! Grenzen sind in aller Munde. Doch Grenzen sind nicht nur der natürliche Feind des Menschen und ein Angriff auf dessen Würde – Grenzen sind auch Feinde der Kunst. Ich will sie in meinem Kino von morgen nicht!

Ein Hauptgrund, Diverse Geschichten zu initiieren, lag in der gezielten Bekämpfung von filmkulturell lähmenden Grenzen: Den unendlich hohen Grenzmauern der österreichischen Filmbranche. Seien wir uns doch ehrlich: Wir arbeiten in einem höchst elitären, exklusiven, ja exkludierenden Umfeld, in das man sich ohne einer Filmakademie-Matrikelnummer nur mühsam und unter der Akzeptanz zahlreicher Kompromisse hineinarbeiten kann. Die Einstiegshürden in die Filmbranche erschweren nicht nur potentiellen Filmarbeiterinnen den Zugang – sie verweigern einem Publikum vor allem Geschichten jenseits des gängigen filmischen Konformismus.

Eva Spreitzhofer sprach in ihrer gestrigen Eröffnungsrede der Drehbuch-Preisverleihung schönerweise über Diverse Geschichten von „großartigen Geschichten, die ich so nie schreiben würde, nicht schreiben könnte, weil ich die Welt nicht aus dieser Perspektive sehe. Geschichten, die im Kino fehlen.“

Tja, warum fehlen sie denn immer noch – zumindest hierzulande?

Liegt es an mangelndem Interesse des Publikums? Ich glaube nicht – ich bin der Meinung, es liegt an einer hierzulande gängigen Produzentenkultur, die sich gerne bitten lässt, die sich als ein Patriarchat des Kinos sieht und sich auch so gibt. Die die AutorInnen, die hinter mir projiziert werden, nicht wahrnehmen, weil diese selbst nach erfolgreich realisierten Projekten nicht über Netzwerke verfügen, die in dieser elitären und biederen Arbeitskultur notwendig sind, um etwas zu schaffen. Den ProduzentInnen entgeht ein Reichtum – und dem Kinopublikum entgehen Geschichten, die wir alle sehen wollen.

In der Menge an AutorInnen seht ihr hinter mir auch den jungen Filmemacher Mo Harawe.

2009 aus Somalia geflüchtet, entwickelte er 2015 in unserem Stoffentwicklungsprogramm die Geschichte „Nach Mogadischu“. Sie erzählt von einem Somali, der in sein Heimatland zurückkehren möchte. Der Protagonist Geedi reist dabei mit der Hilfe von Schleppern durch Italien, über das Mittelmeer, bis an die Küste Westafrikas – ein Migrationsweg in die andere Richtung. Mo gewann hier gestern den mit 5.000 € dotierten Dor Film Preis für Drehbuchentwicklung. Für die aktuelle Diverse-Geschichten-Saison wurde er abermals ausgewählt – mit einem Anwaltsthriller, der sich der Aufarbeitung eines bosnischen Kriegsverbrechens widmet.

Um das zusammenzufassen: Ein Somali kommt nach Österreich und schreibt ein Drehbuch über bosnische Kriegsverbrechen. So sehe ich ein mögliches Kino von morgen. Ein Kino ohne Grenzen, das somit eine Antithese zu der realpolitischen Gegenwart bildet, die sich ja abermals einem Zeitalter neuer Grenzen verschreibt. Ein Kino, auf das Initiativen wie Cinema Next reagieren müssen. Ein Kino, das ich bei Festivals wie der Diagonale sehen und diskutiert haben möchte. Ein Kino, das dadurch gefördert wird, indem diese Menschen gezielt bei Veranstaltungen wie der heutigen zu Wort gebeten werden, statt Brossman, Bachmann, Zwirchmayr und mich über diese Menschen sprechen zu lassen. Reden wir mit ihnen. Schaffen wir Initiativen für sie. Das Kino von morgen wird es uns danken.

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Veröffentlicht am 21. März 2016
Originalfoto © Witcraft Szenario