Total Refusal | Pseudo-marxistische Medienguerilla
Porträts

Total Refusal | Pseudo-marxistische Medienguerilla

Dezember 2023

“Der Kapitalismus funktioniert nicht.”

 

Der Name Total Refusal ist vielleicht geklaut. Jedenfalls entstammt er einer urheberrechtlichen Grauzone. Gleiches kann man von den Machinimas, den auf populären Computerspielen basierenden Filmen sagen, die seit 2018 zum Markenzeichen der selbstbetitelten pseudo-marxistischen Medienguerilla geworden sind. Mit der abgefilmten Gaming-Performance Operation Jane Walk haben Total Refusal die gläserne Decke der kulturellen Aufmerksamkeitsökonomie durchbrochen, mit How to Disappear (2020), einer pazifistischen Intervention in einem Shooter, haben sie sich im Filmfestivalbusiness etabliert, und ihre Kritik an der Leistungsgesellschaft wurde nun, 2023, sogar mit einer Nominierung für den Europäischen Filmpreis bedacht. Die marxistische Analyse virtueller und hyperrealistischer Welten von Games trifft offenbar einen Nerv der Zeit. Aufgrund der andauernden Nachfrage stößt das Kollektiv derzeit jedoch an seine Grenzen – und die der neoliberalen Leistungsgesellschaft. Doch fangen wir von vorne an.

 

Es begann in Graz, erzählen Susanna Flock, Leonhard Müllner und Michael Stumpf – drei Mitglieder der sechsköpfigen Medienguerilla – in einem von lautstarken Stammtischlern besetzten Wiener Kaffeehaus außerhalb des Wiener Gürtels. Leon, Susanna und Robin Klengel, alle Jahrgang 1987 und 1988, gingen auf dieselbe Schule der steirischen Landeshauptstadt. Alle drei waren an Kunst interessiert, aber auch die Theoriearbeit zog sie an. Schon früh arbeiteten sie zusammen. „Leon war immer schon sehr gut darin, Dinge in Gemeinschaft zu lösen“, erzählt Susanna. Seine Grundhaltung ist, bis heute, nicht alleine arbeiten zu wollen. Leons Hauptanliegen war damals aber noch, in den öffentlichen Raum zu intervenieren, wo er sich „hauptsächlich mit Bürgermeistern – es gibt ja fast keine Bürgermeisterinnen –“ herumgeschlagen hat. Robin, der Hilfsbereiteste von den dreien, studierte Anthropologie in Graz und Berlin, Susanna verschlug es wie Leon zum Kunststudium nach Linz (und später nach Wien).

Michael, 1985 in eine oberösterreichische Unternehmerfamilie geboren, war eigentlich zunächst auf dem Weg, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten: Wirtschaft und Marketing studieren, Geld scheffeln. Doch schon kurz nach Studienbeginn in Kopenhagen wurden diese Pläne gekippt und es folgten stattdessen Studien in Philosophie, Medien-, Kultur- und Kunsttheorien. Dort lernte Michael Leon kennen, der – erstmals in der Dozentenrolle – einen Gastvortrag über Gaming Streams hielt. „Von uns beiden war ich, zumindest damals, vermutlich noch der stereotypere Gamer… Leicht fiel es mir also nicht, Leon anzusprechen.“ Die beiden verabredeten sich zum Spielen und verbrachten in den folgenden Wochen fast jeden Abend in Company of Heros 2 – einem Strategiespiel mit Weltkriegssetting. „Wo Michael immer darauf bestanden hat, die Deutschen zu spielen… “, witzelt Leon. „Weil Du Dich mit Deiner britischen Artillerie sonst nie aus der eigenen Basis herausbewegt hättest,“ verteidigt sich Michael.

Gemeinsam gespielt und an Ideen getüftelt wurde also bereits, das Kollektiv war aber noch nicht geboren. Offiziell geschah das 2018 in Zagreb, wo Susanna schon zwei Jahre zuvor im Rahmen einer Residency ausgestellt hatte und Leon nun auf sie folgte. Gemeinsam mit Robin hatte er gerade die Arbeit an Operation Jane Walk fertiggestellt. Da das aber nicht ausreichte, zog er sich mit Michael und Robin eine Woche zurück, um gemeinsame Arbeiten und Ideen für den Gruppenauftritt zu kreieren. Außerdem brauchten sie noch einen Namen – die Wahl fiel auf Total Refusal, inspiriert von einem französischen Kollektiv der 1940er und -50er.

Bevor aber der Durchbruch klappte, verzweifelte Leon fast am „harten Pflaster“ des Kunstbetriebs: „Ich wollte immer wieder aufhören, weil die Kunst so furchtbar demütigend ist“, gesteht er. „Es gibt diese krasse Hierarchie zwischen Leuten, die gesehen werden, und Leuten, die nicht gesehen werden, und wenn man nicht interessant ist, merkt man das. Die Leute drehen sich dann während des Gesprächs einfach um.“  Da Michael mit der Kunstszene bis dahin noch wenig am Hut hatte, bezeichnete er sich in Zagreb noch als „Associate“, Susanna wurde ein Jahr später Teil des Kollektivs. Sie war überhaupt die erste in der Gruppe, die sich künstlerisch mit virtuellen Welten auseinandersetzte. Zum Marxismus führten mehrere Wege: Für manche waren es Begegnungen und Beziehungen mit Kommunist*innen, die sie intellektuell herausforderten. Für andere existierte das Thema schon im Studium oder wurde im Zuge der Recherchen für die Kollektivprojekte auf ein Neues entdeckt. Erst kam der Pazifismus – anfangs trug Total Refusal noch den Untertitel Digital Disarmament Movement –, dann die Kapitalismuskritik.

Der Marxismus liegt Total Refusal am Herzen. Sie verstehen ihre Arbeit als Agitainment – und die oft fehlende Politisiertheit der Kunst ist immer wieder Gesprächsthema. Bis jetzt untertitelte sich das Kollektiv als pseudo-marxistisch – aus Respekt vor dem riesigen Theoriekonvolut –, nun steht der Vorsatz zur Diskussion. Ein Verteidiger des ‚pseudo‘ ist Leon: „Das, was zählt, sind nicht die paar Marxist*innen, die die Nase darüber rümpfen. Was zählt, sind die Menschen im Kino, Leute wie unsere Mütter. Die müssen das verstehen, obwohl sie mit Games und Politik nichts zu tun haben. Das ‚pseudo‘ ist hierfür eine kleine Einflugrampe, eine bescheidene Geste.“

Dass Marxismus und Kapitalismuskritik in den letzten Jahren wieder salonfähig geworden seien, ist für Michael ein Gegenargument: „Man hat jetzt jemanden an der Spitze der SPÖ, der sich in seinen ersten Interviews offen als Marxist bezeichnet hat. Oder einen US-Präsidentschaftskandidaten und -Senator, der sagt, der Kapitalismus gehört abgeschafft.“ Erst kürzlich habe die britische Polit-Publizistin Grace Blakeley darauf hingewiesen, dass man als Linke einen zentralen Erfolg nicht vergessen dürfe: „Mittlerweile gibt es fast eine Art Konsens darüber, dass der Kapitalismus nicht funktioniert. Selbst in der breiten Masse.“ Eines ist aber gewiss: Spricht man mit Total Refusal, dann wendet sich das Gespräch eher früher als später der Politik zu. Nicht von ungefähr tragen Michael und Leon die Letter „MARX“ als Tätowierung auf den Fingerknöcheln.

Michael (links) und Leon mit ihrer Hommage an Karl Marx. © Total Refusal

Durch die marxistische Brille der kapitalismuskritischen Gesellschaftsanalyse blickt die Medienguerilla in ihren Arbeiten auf die virtuellen Welten populärer PC-Games. Aber auch Robins anthropologische Perspektive ist eine dominante Konstante der gemeinsamen Projekte, die zwischen Kurzfilm, Performance und Installation angesiedelt sind. Warum ist der Durchbruch aber über Kurzfilmfestivals wie etwa Vienna Shorts gelungen, wo Operation Jane Walk 2018 völlig überraschend den Preis für den besten österreichischen Film gewann? „Die Kunst ist ein Kühlschrank“, sagt Susanna. „Es ist ein Wahnsinn, wie viele richtig tolle, spannende Arbeiten es gibt, die nicht gesehen werden. Film ist niederschwelliger. Ich habe den Eindruck, dass sich Filmfestivals Dinge auch anschauen, abseits einer gewissen Hackordnung, die es in der bildenden Kunst gibt.“

Doch auch im Film mussten sie anfangs Niederschläge einstecken. „Als Jane Walk die ersten Male ausgestellt wurde, ist das einfach an der Welt vorbeigegangen“, sagt Leon. „Die Welt hat uns erst bemerkt, als ich Maria (Felixmüller) von der Diagonale den Film auf einem USB-Stick persönlich vorbeigebracht habe. Und sie meinte: Ihr müsst das verbreiten, das ist wirklich neu, speziell und lustig!“ Auch Mathieu Janssen vom niederländischen Festival GO SHORT sei ein Förderer der ersten Stunde gewesen. Wahrscheinlich ist Operation Jane Walk durch ihn auf dem BFI London Film Fest gelandet. Und als die Film-Perfomance dann auf dem IDFA – International Documentary Filmfestival Amsterdam den Vimeo-Staff-Pick gewann, schnellten die Zugriffszahlen in die Höhe. Mit How to Disappear setzte sich der Erfolgskurs mit einer Berlinale-Premiere fort, auch weil der Wiener Kurzfilmverleih Lemonade Films seitdem die Festivaleinreichungen von Total Refusal managt und dem Kollektiv ein familiäres Obdach bietet.

Robin, Michael (vordere Reihe) und Adina Camhy (die die Musik zum Film gestaltete) und Marija Milovanovic von Lemonade Films (hintere Reihe) während der Premiere von How to Disappear auf der Berlinale 2020. © Lemonade Films

How to Disappear (oben ein Filmstill) ist gemeinsam mit Operation Jane Walk kostenfrei in der Cinema Next Series beim KINO VOD CUB zu streamen. © Lemonade Films

Ganz und gar nicht familiär – die heteronormative Familie ist schließlich die Keimzelle des Kapitalismus – sieht der Alltag des Kollektivs aus, das in der Pandemie durch Jona Kleinlein (Jg. 1993) und Adrian Jonas Haim (Jg. 1991) Nachwuchs bekam. Beide schrieben Total Refusal an, weil sie von der Arbeit der Gruppe angetan waren. Jona – eigentlich der einzige mit Ausbildung als Filmschaffender – hinterließ mit seiner eigenen Machinima Eindruck, Adrian war Redakteur des Magazins MALMOE, wo er Total Refusal eine Glosse vermittelte: den pseudomarxistischen Gamingblog.

„Wir sind in einer Konstellation, wo man sich gegenseitig zum Lernen motiviert“, erklärt Michael den Zusammenhalt der Gruppe. Man ist sich freundschaftlich nah und wächst politisch mit- und aneinander. Die gemeinsamen Wanderurlaube, in denen Michael aus Büchern politischer Theorie vorliest, steigern die Freude an der Zusammenarbeit. In einem wöchentlichen Jour fixe werden gemeinsam E-Mails beantwortet, nicht selten an die 70, und Projekte besprochen. Zur Schonung der kollektiven Ausdauer gibt es Arbeitsgruppen, die sich verschiedenen Projekten widmen. Ihre neueste Machinima Kinderfilm, die im September auf der Viennale Österreichpremiere feierte, entstammt erstmals der regieführenden Feder Adrians, gemeinsam mit Robin und Michael.

Das Regieteam von Kinderfilm: Robin, Michael und Adrian. © Uwe Winter

Unterschiede lassen sich denn auch erkennen: Den dominanten Off-Kommentar, der How to Disappear und Hardly Working auszeichnete, ersetzten in Kinderfilm Texttafeln im Bild; die eindeutige politische Botschaft der Vorgänger weicht einem abstrakt-spielerischen Schlussbild. Die Gesellschaftsanalyse aber bleibt: Wo es in How to Disappear um das unmögliche Prinzip der Wehrdienstverweigerung im Online-Shooter Battlefield V und in Hardly Working um eine anthropologische Feldstudie der Arbeitsbedingungen von NPCs (Non Player Characters) in Red Dead Redemption 2 ging, zeigt Kinderfilm nun die Auswirkungen, die Verkehr auf die Nicht-Präsenz jener hat, die nicht selbstständig daran teilnehmen können: auf die Kinder. Ihr Fehlen wird im Spiel Grand Theft Auto V erst augenscheinlich und später sichtbar gemacht.

Filmstill aus Kinderfilm.

Viele Projekte von Total Refusal nahmen als Kunstidee ihren Ausgang: Operation Jane Walk war eine Online-Game-Performance, in der die Avatare der Gruppe eine virtuelle Stadtführung durch die Stadt Los Santos im dystopischen Mehrspieler-Shooter Tom Clancy’s: The Division geführt haben: handfeste Architekturgeschichte neben Kampfhandlungen. Der Performancecharakter ist bei Operation Jane Walk noch unübersehbar, in den Folgefilmen wurde schon Wert darauf gelegt, die Interventionen in hyperrealistische Spielewelten mit kinematografischen Mitteln auf die große Leinwand zu übersetzen: spezielle Perspektiven, Kamerafahrten, durchdachte Montagearbeit, ein eigener Musik-Score und eben oft eine Erzählstimme, die die sympathisch österreichisch akzentuierten Voice-overs einzelner Mitglieder während der Performances ersetzt.

Aber die Performances stehen auch für sich, betont Susanna: „Da steckt so viel Arbeit drin, und außerdem ist die Interaktion mit dem Publikum während Performances viel stärker da, aber sie werden weniger oft aufgeführt als die Filme.“ Neben der Filmografie, die bisher vier Kurzfilme umfasst – ein Langfilm namens Money is a form of speech, der den Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie beleuchtet, ist in Arbeit – kann das Kollektiv auf eine noch stolzere Zahl an Performances, Workshops, Publikationen und Installationen verweisen.

Das hat auch Schattenseiten. „Wir leiden unter der Auslastung, die wir jetzt haben“, gesteht Michael, Susanna stimmt zu: „Trotz des Erfolges ist es finanziell nicht einfach für das Kollektiv.“ Fast alle von ihnen haben berufliche Doppelbelastungen: Robin hat eine leitende Funktion im Grazer Forum Stadtpark, Adrian arbeitet in der Hochschulpolitik und einigen Bands, Michael ist Grafikdesigner und Programmierer, Susanna verfolgt ihre künstlerische Solokarriere, Jona arbeitet als Freelancer in der Filmbranche und Leon, der 2022 seine Dissertation mit dem Titel „Fahnenflucht aus digitalem Kriegsgebiet“ abgeschlossen hat, hofft auf eine Stelle im Unibetrieb. Von den Einnahmen des Kollektivs leben könnten ein bis zwei Personen, nicht sechs.

Wie wäre es also machbar, die kapitalistische Logik der Überproduktion auch im eigenen Schaffen zu unterwandern? Vielleicht nur durchs gemeinsame Spielen, was das Kollektiv zuletzt vor fast einem Jahr getan hat. „Wir sind ein Kollektiv, das im Spielen entstanden ist und sich über das Spielen definiert, aber das nach einer gewissen Zeit nicht mehr miteinander gespielt hat“, bringt es Leon auf den Punkt. Hoffentlich gelingt es Total Refusal, trotz des absolut verdienten Erfolgs, hin und wieder zurück ins Spiel zu finden.

von Valerie Dirk
im Dezember 2023

Die Filme Operation Jane WalkHow to Disappear und Hardly Working sind bei uns in der Cinema Next Series zu streamen

Poträtfoto oben, v.l.: Robin Klengel, Michael Stumpf, Adrian Haim, Susanna Flock, Leonhard Müllner und Jona Kleinlein. Foto © DOCK 20 / Miro Kuzmanovic
Webseite Total Refusal