Fokus analog/digital: Süß oder salzig?
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Fokus analog/digital: Süß oder salzig?

Luz Olivares Capelle, April 2017

Luz Olivares Capelle ist Filmemacherin und Künstlerin. Dieser Text wurde als 5-Minuten-Intervention beim Cinema Next Breakfast Club – Breakfast #2: Cinema Futures. Das Analoge und Digitale in der Gegenwart – auf der Diagonale 2017 vorgetragen.

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Was ich in den folgenden Minuten anbieten möchte, ist, die Frage “DIGITAL ODER ANALOG” zu relativieren.

Ich fange das Spiel also an:
Analog oder digital?

Um über eine Antwort nachzudenken, stelle ich eine andere Beispielfrage:
“Normale” Kamera oder 360°-Kamera?

Vor ein paar Wochen erzählte mir ein Freund während eines Abendessens über die 360º-Kamera, die in alle Richtungen filmen kann. Er deklariert: “Es ist der Anfang einer neuen Kunstform!”

Da erinnerte ich mich an etwas, das Erwin Panofsky im Jahr 1934 gesagt hat:
“… It was not an artistic urge that gave rise to the discovery and gradual perception of a new technique; it was a technical invention that gave rise to the discovery and gradual perfection of a new art…” 1

Also, mit diesem Zitat im Kopf nochmals die Frage:
Analog oder digital?
Vor mehr als hundert Jahren lautete die symmetrische Frage hierzu vielleicht:
Dokumentarfilm oder Spielfilm?

Man könnte sagen, dass die Idee von Film eigentlich von einem Physiologen erfunden wurde: Etienne Jules Marey. Er wollte eine wissenschaftliche Frage beantworten.2 Mit der Chronophotographie hat der französische Arzt dann die Bausteine vorgelegt, aus denen danach Film werden sollte.
Anfangs wurde diese neue Technologie hauptsächlich dazu benutzt, dokumentarische Produktionen zu machen.
Damals wurden nur diese dokumentarischen Produktionen seriös wahrgenommen, wie Genevieve Sandberg-Diment erläutert:

“…This initial fascination with technology rather than content is well-documented in historical accounts of the early days of film (…) in which the narrative form was considered silly, frivolous, in comparison to the prevailing trend of filming documentary scenes of daily life…” 3

In diesem Kontext gab es aber auch Filmemacherinnen wie Alice Guy-Blaché, die viel mehr Möglichkeiten in diesem Medium gesehen haben als “nur” Dokumentationen. Sie ist ein Beispiel einer Filmemacherin, die damit angefangen hat, kurze Filme zu produzieren, die nicht nur fiktionale Geschichten erzählten, sondern darüber hinaus auch den damaligen sozialen Kontext kommentierten.4

Nach solchen dichotomischen Beispielen lande ich also nochmals bei unserer Frage:
Analog oder digital?

Mein Freund, jetzt halb betrunken, erzählt mir weiter über diese geile neue Technologie: „Damit kann man den Zuschauern unendlich viele Geschichten erzählen! Die Zuschauer können in alle Richtungen schauen und der Geschichte folgen, die sie wollen. Der Zuschauer ist endlich frei!“

Nach ein paar Sekunden des Weiter-darüber-Nachdenkens fügt er hinzu: „Nur… sollte man den Blick der Zuschauer in bestimmte Richtungen lenken können, damit sie bestimmte Geschichten nicht verpassen und sie sich nicht langweilen.“

Na dann, denke ich, wenn ich den Blick der Zuschauer richten soll, dann sind wir wieder bei Dramaturgie, bei Manipulation, etc. Das wäre genau das Gleiche wie ganz normales Kino, nur mit mehr Pixel!

Also: Analog oder digital?

Dann frage ich:
“Naturalismus und Mimesis” oder “Künstlichkeit und Stilisierung”?

Vor ein paar Tagen war ich in einer Ausstellung: Ein Künstler nutzte Virtual-Reality-Technologie, um eine Geschichte zu erzählen.
Ich beobachte dort eine Frau mit einer digitalen Brille.
Nach zwei Minuten nimmt sie die Brille herunter und atmet tief. Ich frage: „Und? Was war?“
Sie antwortet: „Beeindruckend, zwei Menschen schlagen sich gegenseitig tot. Am Ende schlägt einer mit dem Fuß auf den Kopf des anderen, der am Boden liegt. Total realistisch. Unglaublich gemacht! Du kannst in alle Richtungen schauen. Es gibt Blut überall.“

Na super! Gewalt, so nah wie nie zuvor! In 360°! (?)

Virtual Reality oder Reality?

Garcia Marquez erzählt in Hundert Jahre Einsamkeit, wie enttäuscht die Leute nach den ersten Kino-Projektionen waren.
Die gleiche Person, die in einem Film gestorben ist und für die die Leute von Macondo gefühlvolle Tränen vergossen haben, taucht plötzlich wieder quicklebendig in einer neuen Geschichte als andere Figur auf.
Wieso sollte man sich Sorgen machen wegen fiktiver Lügen, wenn man in der Realität schon genug Probleme hat?
Eine viel bessere Erfindung war für sie da schon das Telefon. Das war richtig beeindruckend.
Dass man mit einem unsichtbaren, aber realen Menschen reden konnte, der komplett woanders ist… das war richtig imposant.

Dann könnten wir eigentlich fragen:
Kamera oder Telefon?

Walter de Maria hat sich bei seinem künstlerischen Beitrag für die legendäre Ausstellung “When attitudes become form” (1969) eh für das Telefon entschieden.

Also, worüber reden wir, wenn wir fragen: Analog oder digital?

Das ist, als würde ich fragen:
Schwarz-weiß oder Farbe?
Acryl oder Öl?
Süß oder salzig?
Im Prinzip würde ich antworten: Ja, beides. Aber wofür?

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Veröffentlicht am 11. April 2017
Foto und Bearbeitung © Cinema Next
1 – Panofsky, Erwin. Style and medium in the motion Pictures. 1934
https://monoskop.org/images/1/14/Panofsky_Erwin_1934_1966_Style_and_Medium_in_the_Motion_Pictures.pdf
2 – Laurent Mannoni in seinem Essay: Die graphische Methode-eine Universalsprache erweitert diesen Punkt: “… Die Anwendung der graphischen Methode und später die Chronophotographie, oder auch beider Techniken vereint, ermöglichte die Beantwortung elementarer Fragen, die bis dahin offengeblieben waren: wie laufen wir? wie sprechen wir? welche sind die genauen Gangarten des Pferdes? Wie fliegt ein Vogel? Dabei ist die Bewegungsphysiologie die zentrale Achse der Forschungen Mareys…”. In Notation: Kalkül und Form in den Künsten, Berlin: Akademie der Künste 2008, p326.
3 – Sandberg-Diment, Genevieve. Echos from the Silent Era. 2008, p105.
4 – Genevieve Sandberg-Diment erweitert in ihrem Buch: “… The most well-known is of course La Fee Aux Choux (1896), widely credited as the first fiction film (…) Guy was clearly at the forefront of a trend that did not, as many histories narrate, first emerge years later as a result of special effects employed with, for example, The Great Train Robbery, shot in 1903 and using colour to magnify the explosions of a gunfight that takes place on the train. In addition to being one of the innovators to script and produce a fiction film, it could be noted here that Guy also chose primarily comic themes for her work, focusing on the creation of drama and suspense trough relationship foibles, character and caricature, rather than through technologically produced effects …” Echos from the Silent Era. 2008, p105.

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