Filmemachen ist eine soziale Kunst
Sichtweisen

Filmemachen ist eine soziale Kunst

Marie Luise Lehner, Dezember 2020

Marie Luise Lehner ist Autorin, Filmemacherin und Musikerin. Sie studierte am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, Wien. Aktuell studiert sie Drehbuch an der Filmakademie Wien und kontextuelle Malerei an der Akademie der bildenden Künste. 2020 wollte sie einen bereits abgedrehten Kurzfilm fertig stellen.

Der folgende Text ist einer von vier Rückschauen auf das Jahr 2020.

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Wenn ich momentan zuhause Filme auf meinem Laptop sehe und es gibt Szenen, in denen in Clubs eng getanzt wird, in denen Menschenmengen miteinander in Innenräumen sitzen oder in denen Fremde miteinander schmusen, möchte ich ihnen zurufen, dass sie den Sicherheitsabstand nicht einhalten. Sie kommen mir vor wie aus einer anderen Welt. Ich bin 25, mache Filme und spiele unter gewöhnlichen Umständen oft Livekonzerte mit meiner feministischen Punkband Schapka. Ich bin ständig unter Leuten. Was Corona mit mir macht und was ich mir für die nahe Zukunft wünsche, können sich manche vielleicht jetzt schon denken.

Als (Drehbuch-)Autorin ist mir wichtig zu sagen, dass ich nicht das Gefühl habe, Geschichten würden sich erzählen lassen, ohne dass ihre Autorinnen Erlebnisse machen. Wie lange können wir noch von den Ereignissen in unseren Leben vor dem Lockdown zehren? Ich glaube nicht ans Schreiben in der stillen Kammer. Ich denke, es ist notwendig, unter Leute zu gehen, um danach erzählen zu können. Ohne Reibung, ohne Gespräche, ohne Interaktionen mit der Außenwelt, ohne ambivalente Beziehungen ist das, was ich erzählen kann, konstruiert und langweilig.

Anders als das Schreiben ist das Machen von Filmen ziemlich schwierig allein. Ich bin der Überzeugung, dass gute Filme immer dann entstehen, wenn mehrere Leute miteinander gut kollaborieren. Ich glaube nicht an Einzelkämpfer*innen in diesem Feld. Ich glaube nicht an den Autorenfilm, in dem eine Person für die ganze künstlerische Ausführung Verantwortung tragen kann. Für mich ist der produktivste Zugang zum Filmemachen die Kollaboration mit Menschen aus allen Gewerken: das ausführliche Besprechen und Planen mit der Kamerafrau, der Produzentin. Das Proben mit den Schauspieler*innen. Ihnen noch eine Möglichkeit zum Eingreifen in ihre Rollen zu bieten. Das Experimentieren und die Offenheit für Vorschläge. Allen zugewandt zu sein. Das Kommunizieren mit Worten und mit dem Körper. Wertschätzungauszusprechen. Rücksichtnahme. Die Aufgabe einer rücksichtsvollen Regie ist, den Raum zu schaffen, in dem alle am Projekt Beteiligten produktiv-künstlerischen Einfluss nehmen können. Für mich bedeutet das, keine übervollen Drehtage zu planen, sondern Zeiten freizuhalten, damit am Set noch Entscheidungen getroffen werden können, die so vielleicht nicht zu planen gewesen wären.

Und dann: Corona und Kollaborationen gehen schlecht zusammen.
Was habe ich aus der sozialen Isolation zu erzählen?
Distanziert drehen geht nicht.

Zynisch gesagt würde ich mir in Zeiten von Corona wünschen, die Kolleg*innen, die immer am lautesten sagen, sie hätten alles am Set allein im Griff und jede künstlerische Entscheidung käme von ihnen, würden uns zeigen, wie sie ihre Filme allein machen. Wie sie Filme mit sich selbst in Regie, Hauptrolle, Ton, Kamera, Produktion, Schnitt und vielleicht Filmmusik machen. Natürlich ist es in manchen Genres möglich, allein Filme zu machen. Filme, die aus Archivmaterial bestehen, oder Animationsfilme zum Beispiel. Ich habe im ersten Lockdown 200 Wasserfarbenbilder für einen dreiminütigen Animationsfilm gemalt. So versuche ich mir als Filmstudentin, die kein Budget für konstante Coronatestshat, weiterzuhelfen. Die Möglichkeiten Filme zu machen, ohne mit anderen Menschen in einem Raum zu sein, sind sehr begrenzt. Film ist eine soziale Kunstform.

Februar 2020. An der Filmakademie ist der Film, an dem ich gerade arbeite, Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz., das letzte Projekt, das von Studierenden vor dem ersten Lockdown gedreht wird. Ende Jänner ist unser Film abgedreht und ich bin froh, dass das noch funktioniert hat. Kurz darauf müssen Kolleg*innen ihre lang geplanten Projekte abbrechen, verschieben, vorrübergehend absagen. An einem Tag wird per Mail bekannt gegeben: Ab morgen dürfen die Studierenden die Uni nicht mehr betreten. Kurz nachdem ich die Nachricht gelesen habe, stehe ich im Saturn,um eine Festplatte zu kaufen. Ich radle mit dem zwei Terrabyte umfassenden, neu erworbenen Speicherplatz von dort direkt zur Universität in der Metternichgasse, wo sich ein Auflauf aufgeregter Studierender am Gang aufhält. Alle holen gehetzt Dinge, Geräte oder Daten, so wie ich. Der Schnitt an Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz. läuft anders als jede Filmmontage vorher. Wir diskutieren über mögliche Arbeitsweisen und kommen schließlich auf eine Lösung: Die Editorin Jana Libnik schneidet zuhause an ihrem Rechner und ich schaue auf meinem Laptop per Videochat mit. Dazu probieren wir unterschiedliche Dienste, wechseln immer wieder zwischen Discord und Zoom. Als der Schnitt fertig ist, stehen wir an. Momentan kämpfe ich immer noch mit der schwierigen Situation, dass ein Film, der zur nächsten Diagonale hätte fertig sein können, nicht fertig werden kann. Die Farbkorrektur ist mittlerweile weit fortgeschritten, aber seit Februar dürfen wir das Tonstudio nicht betreten. Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz. ist nämlich ein Film, der ein großes Augenmerk auf die Tongestaltung legt. Erotische Bilder sollen mit ASMR-Ton unterlegt werden. Für das aufwendige Sounddesign brauchen wir Foleys aus dem Studio, und auch eine komödiantische Traumszene, die wir im Café Stadtbahn gedreht haben, das leider an einer vierspurigen Straße liegt, wollen wir nachsynchronisieren. Die MA 7 der Stadt Wien bitte ich, die Deadline für die Endabrechnung des Films nach hinten verschieben zu dürfen. Zur Diagonale sende ich den mittlerweile fertig gestellten Animationsfilm. Die 200 Wasserfarbenbilder aus dem ersten Lockdown wurden zu mindestens 400. Irgendwann habe ich zu zählen aufgehört. Momentan heißt es, sich in Geduld zu üben.

Ich wünsche mir dringend eine Lösung für Corona. Ich wünsche mir Körperkontakt, Schweiß und heißen Atem im Nacken. Ohne Abenteuer im echten Leben gibt es keine spannenden fiktiven Geschichten. Ohne Kollaboration gibt es keinen Film.

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Foto (Ausschnitt) © Sarah Tasha Hauber